Compliance

Scheinselbständigkeit

Der Begriff „Scheinselbständigkeit“ bezeichnet eine Tätigkeit, die augenscheinlich die Merkmale einer freien Mitarbeit (also „Selbständigkeit“) aufweist, in Wahrheit handelt es sich jedoch um eine abhängige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Viele Unternehmer, die freie Mitarbeiter auf Basis eines Werkvertrages (oder Dienstvertrag) als Subunternehmer, Berater, o. ä. engagieren, haben nur eine vage Vorstellung über die Abgrenzung und Risiken. Näheres ist dazu in der Regel nicht bekannt, abgesehen davon, dass freie Mitarbeiter kein monatlich abzurechnendes Gehalt bekommen, sondern für ihre erbrachten Leistungen Rechnungen stellen und der Unternehmer sich deshalb nicht um die Abführung von Sozialversicherungsabgaben oder Lohnsteuer kümmern muss. Zu den weitverbreiteten Irrtümern gehört, dass es für eine „echte“ Selbständigkeit schon ausreicht, wenn der freie Mitarbeiter mehrere Auftraggeber hat und einen bestimmten Prozentsatz seines „Umsatzes“ bei einem oder mehreren anderen Auftraggebern verdient. Eine Fehleinschätzung, die erhebliche finanzielle und strafrechtliche Risiken birgt.

  1. Was das Gesetz sagt

Eine gesetzliche Definition des Begriffs „Scheinselbständigkeit“ existiert nicht. Auch die Rechtsprechung vermeidet diesen Begriff, der sich als Schlagwort verbreitet hat (teils liest man auch von „Scheinwerkverträgen“).

Wer nur zum „Schein“ selbständig ist, ist nach der Wertung der Rechtsprechung in Wirklichkeit nicht selbständig, sondern ein abhängiger sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter; der “Auftraggeber“ gilt dann als Arbeitgeber. Die Annäherung an diesen Begriff erfolgt also nach der Definition dessen, was das Gesetz unter einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten versteht.

Ein Blick in § 7 Absatz 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch IV (SGB IV) hilft auch nicht wirklich weiter, denn dort steht nur, dass darunter “jede nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis“ zu verstehen ist. In § 611a Abs. 1 BGB sind nun alle wichtigen Abgrenzungskriterien durch den Gesetzgeber aufgenommen worden.

  1. Wesentliche Merkmale und Indizien bei der Abgrenzung

Eine Schablone, bei deren Zuhilfenahme stets eine klare Abgrenzung erfolgen kann, gibt es nicht. Jeder Einzelfall ist zu betrachten, Erfahrung ist gefragt. Viele Einzelmerkmale können eine Rolle spielen, aber es kommt auch darauf an, um welche Branche es geht. Am Ende entscheidet die Gewichtung und Gesamtbetrachtung aller relevanten Einzelmerkmale.

Eines der wesentlichen Merkmale eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ist die persönliche Abhängigkeit. Sie äußert sich in der Eingliederung des Auftragnehmers/Arbeitnehmers in einen fremden Betrieb, womit regelmäßig die Weisungsbefugnis des Auftraggebers/Arbeitgebers über Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung verbunden ist. Doch es ist ein Irrtum zu glauben, dass man das Problem „Scheinselbständigkeit“ umgeht, indem man dem Auftragnehmer bei seiner Tätigkeit weitgehend freie Hand lässt. Denn eine Weisungsgebundenheit kann - besonders bei Diensten höherer Art (bspw. Tätigkeiten, die besondere Qualifikationen erfordern) - auf ein äußerst geringes Maß herabgesetzt sein und trotzdem liegt eine persönliche Abhängigkeit vor. Selbst wenn der Auftragnehmer keinen direkten und/oder regelmäßigen „Weisungen“ des Auftraggebers unterliegt und seine Aufgaben im Wesentlichen nach eigenem Ermessen erledigt, kann ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorliegen.

  1. Die tatsächlichen Verhältnisse entscheiden, nicht, was „auf dem Papier steht“

Ein sozialversicherungsrechtliches Beschäftigungsverhältnis kommt allein dadurch zustande, dass der Beschäftigte nach übereinstimmendem Willen mit dem Auftraggeber/Arbeitgeber im Wesentliche fremdbestimmte Arbeit leistet oder zu leisten hat und dafür eine Bezahlung erhält.

Keine Rolle spielt, wie beide Seiten einen zwischen ihnen abgeschlossenen Vertrag bezeichnen oder was sie darin vereinbaren. Weichen die tatsächlichen Verhältnisse von einem Vertrag ab, so sind allein die tatsächlichen Verhältnisse entscheidend. Eine sich aus den tatsächlichen Verhältnissen ergebende Sozialversicherungspflicht kann nicht vertraglich ausgeschlossen werden, denn das deutsche Sozialversicherungsrecht gehört dem öffentlichen Recht an und ist einer willkürlichen Vertragsgestaltung durch Privatpersonen entzogen. Jegliche bürgerlich-rechtlichen Vertragsbestimmungen, die dem zuwiderlaufen, sind nichtig (§ 32 SGB I).

  1. Risiken

In vielen Fällen wurde der Vorwurf im Laufe einer regulären Sozialversicherungs-/Betriebsprüfung durch die Deutsche Rentenversicherung erhoben.

Nach unserer Einschätzung neigen die Prüfer dazu, selbst bei absoluten Zweifelsfällen eher das Vorliegen einer sozialversicherungspflichtigen abhängigen Beschäftigung zu unterstellen, als die freie Mitarbeit bzw. Selbständigkeit anzuerkennen.

Die Folgen eines Bescheids, in dem dies festgestellt wird, sind für die betroffenen Auftraggeber gravierend, denn sie müssen im Regelfall sofort und rückwirkend im Rahmen der Verjährung (diese beträgt im Regelfall 4 Jahre, wenn jedoch Vorsatz unterstellt wird, 30 Jahre) alle Sozialversicherungsbeiträge - also Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge - zuzüglich hoher Säumniszuschläge nachbezahlen, denn die Zahlungspflicht liegt im Verhältnis zu den Sozialversicherungen grundsätzlich bei dem Arbeitgeber (§ 28e SGB IV).

Die Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge basiert dabei im Regelfall auf den tatsächlich bezahlten Rechnungen des (freien) Mitarbeiters, also nicht etwa auf dem fiktiven Gehalt eines vergleichbaren angestellten Mitarbeiters, das im Regelfall deutlich niedriger wäre. Wenn das Vertragsverhältnis über mehrere Jahre lief, sind nicht selten sechsstellige Beträge auf einmal nachzubezahlen. Unter bestimmten Voraussetzungen kann bspw. eine Ratenzahlung erwirkt werden. Ein Antrag auf Aussetzen der Vollziehung des Bescheids bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils hat nur im Ausnahmefall Erfolgsaussichten.

Selbst wenn man mit guten Gründen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids hat und Widerspruch und ggf. Klage erhebt, bleibt die Zahlungspflicht also grundsätzlich so lange bestehen, bis durch ein gerichtliches Urteil rechtskräftig feststeht, dass der Bescheid rechtswidrig war (dann erfolgt ggf. eine Rückzahlung). Für den Widerspruch und die daran anschließende Klage zum Sozialgericht sollte man einen Zeitraum von zwei Jahren und länger einplanen. Eine neutrale Überprüfung findet nach unserer Erfahrung eher erst vor dem Sozialgericht statt. Die für den Widerspruch zuständigen Stellen neigen nach unserem Eindruck dazu, den Ausgangs-Bescheid „abzunicken“.

Neben den Nachzahlungen von Sozialversicherungsbeiträgen besteht noch das Risiko, von den Finanzbehörden auf rückwirkende Abführung der Lohnsteuer in Anspruch genommen zu werden. Hat der Auftragnehmer bei seinen Rechnungen Umsatzsteuer ausgewiesen, steht auch insofern eine Rückabwicklung an.

  1. Klage vor dem Arbeitsgericht

Nicht nur Sozialversicherungsprüfungen können einen vermeintlichen freien Mitarbeiter plötzlich zu einem sozialversicherungspflichtig abhängigen Beschäftigten machen.

Immer wieder ist der Fall anzutreffen, dass der freie Mitarbeiter selbst auf die Idee kommt, lieber „Arbeitnehmer“ sein zu wollen und deshalb eine entsprechende Feststellungsklage zum zuständigen Arbeitsgericht erhebt. Auslöser ist nicht selten die Beendigung des Vertragsverhältnisses durch den Auftraggeber (aus welchem Grund auch immer). Zwar werden diese Rechtsstreitigkeiten häufig per gerichtlichem Vergleich (der teuer werden kann!) beigelegt, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Deutsche Rentenversicherung auf den Plan gerufen wird, ist hoch; das gilt auf jeden Fall dann, wenn der Rechtsstreit nicht durch Vergleich beendet wird und der vormals „Selbständige“ vor dem Arbeitsgericht die begehrte Feststellung durchsetzt, dass in Wirklichkeit ein „Arbeitsverhältnis“ besteht und er damit „Arbeitnehmer“ ist.

Die aufgezeigten Risiken treffen den Auftraggeber/Arbeitgeber wesentlich härter, als den freien Mitarbeiter/Arbeitnehmer. Allein der Auftraggeber/Arbeitgeber schuldet die Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen. Ein Rückgriff auf den freien Mitarbeiter/Arbeitnehmer ist im Regelfall rechtlich nicht bzw. nur in geringem Umfang möglich.

Wird der Auftraggeber/Arbeitgeber von den Finanzbehörden auf rückwirkende Abführung der Lohnsteuer in Anspruch genommen, ist ein Rückgriff auf den freien Mitarbeiter/Arbeitnehmer grundsätzlich möglich. Allerdings spielt dieser Bereich je nach Einzelfall dann keine größere Rolle, wenn der freie Mitarbeiter/Arbeitnehmer Einkommenssteuer abgeführt hat, denn die Lohnsteuer ist nur eine Erhebungsform der Einkommenssteuer.

Hat der freie Mitarbeiter/Arbeitnehmer bei seinen Rechnungen Umsatzsteuer ausgewiesen, hat diesbezüglich eine Rückabwicklung zu erfolgen. Das wird für beide Seiten dann unangenehm, wenn die gezahlte Umsatzsteuer bei der Umsatzsteueranmeldung als Vorsteuer in Abzug gebracht wurde. Folge ist, dass Umsatzsteuererklärungen fehlerhaft sind und korrigiert werden müssen, was im Regelfall für beide Seiten Nachzahlungen zur Folge hat. Allerdings ist diese Last auf Seiten der freien Mitarbeiter/Arbeitnehmer häufig eher gering.

  1. Strafbarkeit

Neben den finanziellen Risiken bestehen strafrechtliche Risiken, denn das Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen ist ein Straftatbestand gemäß 266a Strafgesetzbuch (StGB). Im Fadenkreuz der Ermittlungen, die im Regelfall von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (eine Abteilung der Zollbehörden) durchgeführt werden, stehen im Regelfall Geschäftsführer bzw. Inhaber des Auftraggebers.